Karneval am Horziont des Regenwaldes

Nachts laufe ich durch den dunklen, stillen Regenwald vor zur Straße. Die Hunde haben nicht aufgehört zu bellen. Irgendetwas muss los sein.  Ob einem der Nachbarn etwas passiert ist, Einbrecher unterwegs sind, sich der Nachbarshund verletzt hat? Ich muss sowieso mit den Hunden eine Gassirunde drehen und mich etwas bewegen. Also gehe ich los.

Drei einsame Sterne sind zwischen den Wolken zu sehen. Durch die Bäume hindurch erkenne ich in der Ferne einen orangefarbenen Streifen am Horizont, der von hellen Lichtern durchzuckt wird: die Reflexe des Karnevals in Antonina, einer der besten Straßenkarnevals Südbrasiliens. Wahrscheinlich sind gerade die Sambaschulen mit ihren Tänzern und phantasievollen Wagen die Avenida Gomes entlang gezogen, begeistert angefeuert von einem Publikum, das oft doppelt oder dreimal so groß ist, wie die Stadt Einwohner zählt. Vielleicht ist die Parade auch schon vorbei und wurde der öffentliche "Baile" eröffnet, Tanz. Dann gibt es Live-Musik von einer mitten auf der Avenida aufgebauten Bühne und es tanzen tatsächlich einige der tausenden Besucher im Getümmel der kostümierten Massen.

Dieses Mal treibt es keine Trommelschläge oder Musikfetzen durch die Luft zu uns herüber. Es dominiert der Lärm eines Fahrzeuges auf der wenige hundert Meter von uns entfernten Staatsstraße. Was ist passiert? Auf der Hälfte des Weges zur Straße erkenne ich durch Stämme und Gebüsch in der Ferne rote und helle Lichter. Ich höre Stimmen von Männern, kann aber nichts verstehen. Der Fahrzeuglärm hört sich an, als käme er von einem Abschlepplaster. Immer wieder macht es wumm, wumm, wumm, durchbrochen von unverständlichen Rufen der Männer.

Den Geräuschen nach, wird versucht, ein Auto aufzugabeln. Vielleicht ist es die Böschung hinunter in den Sumpf gerast oder weiter vorne, am Fuß des Hügels die Böschung hinunter und dann zwischen den Bäumen hängen geblieben. Die Straße ist für brasilianische Verhältnisse in einem relativ guten Zustand. Die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 60 Stundenkilometer wird da nur von wenigen wahrgenommen und noch wenigeren eingehalten.

Es wäre nicht der erste Unfall an der "descida do bambueiro", wie der Streckenabschnitt von den Einheimischen genannt wird. Bei dem geht es in wenigen Schlangenlinien eine kleine Anhöhe hinunter bis zur Mulde unseres Sumpfes und dann am "Morro das fantasmas" vorbei, dem Geisterhügel, wieder eine leichte Steigung hinauf.

Einmal hat dort in der Senke einer die Kontrolle über sein Auto verloren und ist im Sumpf gelandet. Ein anderer hatte ein wenig mehr Glück und ist nur an der Böschung hängen geblieben. Der Dritte hatte ausgerechnet in einer der Kurven zu einem Überholversuch angesetzt und ist dann schnurstracks an der steilen Böschung zwischen den Bäumen hängen geblieben. Dann war da noch einer, von dem ich nur weiß, dass er die Bretter von unserem an der Staatsstraße aufgestellten Müllbehälter benutzt hat, um sein Auto wieder von der Böschung auf die Straße zu bekommen.

Dort wandeln rastlose Seelen, hat Seu Ito einmal gesagt. Der Sohn japanischer Einwanderer ist in unserer Region aufgewachsen, in der ersten Kolonie der japanischen Immigranten, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Paraná gekommen sind. Er hat die Markthalle in der etwa 100 Kilometer entfernten Großstadt Curitiba mit in unserer Region angebauten Bananen, Maniok und Gemüse  bestückt. Etliche Male ist er an der "Descida do Bambueiro" des nächtens mit seinem Laster hängen geblieben, hat er erzählt, musste Reifen wechseln oder Teile am Motor auswechseln, weil nichts mehr ging. Berichtet hat er auch von einem Unfall, bei demvor Jahrzehnten zwei Mädchen ums Leben gekommen sein sollen. Ihre Seelen, war er sich sicher, geistern noch dort herum.

Seu Ito ist vor fünf Jahren im Alter von 85 Jahren verstorben, nicht bei einem Unfall an der Descida, sondern an einem Gerinsel.

Nach ein paar Minuten beschließe ich, den Rückweg anzutreten. Ich kann den Männern sowieso nicht zur Hand gehen und dem möglicherweise Verunglückten wird ja schon geholfen.

Es ist eine herrliche Nacht. Die Düfte des Waldes fangen mich ein. Zuerst ist es der schwere, süßliche Duft des zu den Ingwerpflanzen gehörenden Lírio. Er wird abgelöst vom zarten, herben Geruch einer Orchidee. Nahe des Hauses umfängt mich ein anderer Duft, dessen Quelle ich nicht kenne. Er erinnert mich leicht an Musk. Oben auf dem Waldweg vor unserem Häuslein bleibe ich stehen, genieße noch ein paar tiefe Atemzüge, die unendliche Stille und das Gefühl von Geborgenheit.

Die Hunde bellen nicht mehr. Jetzt, wo sie wissen, dass die Geräusche nicht uns betreffen, liegen sie wenig später friedlich vor ihrem Häuschen und dösen. Das werde ich jetzt auch tun, im Haus, in der Hängematte.

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